Die Eiswürfel-Lüge: Wie viel Getränk steckt im Glas?

Anne Marie Bakendire

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In einem Biergarten, Café oder Restaurant in Österreich bestellt man oft ganz selbstverständlich ein Glas Bier, eine Cola oder ein Glas Wein – und erwartet, dass die Menge auch stimmt. Schließlich sind Ausschankmengen klar gesetzlich geregelt. Das Maß- und Eichgesetz und die Schankgefäßeverordnung definieren exakt, wie viel Flüssigkeit in welchem Glas sein muss. Doch was passiert, wenn das Glas scheinbar randvoll ist, aber durch Eiswürfel, Schaum oder Deko optisch aufgetürmt wird? Zählen diese Zusatzstoffe eigentlich zur Getränkemenge? Oder steckt hinter dem scheinbar vollen Glas am Ende weniger, als der Gast erwartet?

Diese Fragen sind nicht neu, doch die Antworten bleiben oft nebulös. Die Gastronomie steht zwischen wirtschaftlichen Zwängen, gesetzlichen Vorgaben und dem Anspruch auf ehrliche Kommunikation. Was bedeutet das für Gäste, die sich auf eine genaue Menge verlassen wollen? Und wie viel Täuschung ist in der Branche akzeptiert?

Eiswürfel, Schaum & Co.: Wenn das Glas optisch mehr verspricht als es hält

Ein Glas, das randvoll mit großen Eiswürfeln gefüllt ist, sieht auf den ersten Blick prall gefüllt aus. Doch laut österreichischem Maß- und Eichgesetz sowie der Schankgefäßeverordnung gilt eindeutig: Nur die tatsächliche Flüssigkeitsmenge zählt als Ausschankmaß, nicht Eiswürfel, Schaum oder Garnituren. Gerade bei Sodagetränken oder Cocktails wird dieser Effekt oft genutzt, um das Glas optisch aufzuwerten, ohne tatsächlich mehr Flüssigkeit zu schenken. Das Gesetz schreibt vor, dass Schankgefäße mit sichtbaren, gut erkennbaren Füllstrichen ausgestattet sein müssen, die die genaue Menge anzeigen. Diese Markierungen sind kein bloßes Designmerkmal, sondern ein präzises Messinstrument, das Schutz für Konsument:innen bieten soll. Der Füllstrich darf weder durch Eis noch Schaum überschritten werden. Doch in der Praxis sehen viele Gäste nur ein prall gefülltes Glas und nehmen an, dass sie die volle Menge erhalten.

Dieses Missverständnis wird oft bewusst nicht korrigiert, weil der optische Eindruck den Gästen gefällt – und gleichzeitig der Betrieb so Kosten sparen kann. Für die Gastronomie bedeutet das einen scheinbar einfachen Gewinn: Mit weniger Getränk im Glas bei gleichem Preis erhöhen sich die Margen. Für den Gast entsteht aber eine Täuschung, die Fragen nach Transparenz und Fairness aufwirft. Das Thema ist keineswegs trivial. In einem Land wie Österreich, wo klar definierte Ausschankgrößen von 0,1 Liter bis 0,5 Liter und mehr genau vorgeschrieben sind, sollte diese Form der Irreführung eigentlich keinen Platz haben. Doch das Spannungsfeld zwischen gesetzlicher Norm und gelebter Praxis bleibt groß.

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Klare Regeln, schwache Kontrolle: Die Umsetzung der Schankgefäßeverordnung in der Realität

Seit 2016 gilt in Österreich eine klare Regel: Nur Schankgefäße, die den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, dürfen zum entgeltlichen Ausschank verwendet werden. Das bedeutet Füllstriche, CE-Kennzeichnung und eine eindeutige Herstellerkennzeichnung. Dazu gehört auch die Einhaltung definierter Fehlergrenzen – z.B. darf die tatsächliche Füllmenge bei Ausschankgläsern mit mehr als 200 ml Nennvolumen nur geringfügig vom angegebenen Volumen abweichen. Theoretisch gibt es also klare Maßstäbe für den Ausschank. Doch wie so oft in der Gastronomie gilt: Kontrolle ist die halbe Miete. Personal wird oft nicht ausreichend geschult, Zeitdruck beim Ausschank führt zu schnellen Handgriffen – und Kontrollen durch Eichbehörden sind selten und unregelmäßig. Die Folge: Regelverstöße, ob bewusst oder unbewusst, bleiben oft unentdeckt.

Zudem können Gäste die Einhaltung der Füllmengen selbst nur schwer überprüfen. Das Glas sieht voll aus, das Getränk schmeckt – warum also kritisch nachfragen? Dieser „Augenschein“ wird oft als Rechtfertigung genommen, die Regeln nicht ganz genau einzuhalten. Dabei wäre gerade hier Transparenz ein echtes Qualitätsmerkmal. Betriebe, die mit sichtbaren Füllstrichen und ehrlichem Ausschank arbeiten, heben sich positiv ab – und stärken das Vertrauen der Gäste. Doch das ist nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Das führt zu einem Klima des Misstrauens, das den gesamten Gastronomiesektor belastet. Die Frage bleibt: Wie kann eine Branche, die auf Vertrauen und Erlebnis setzt, langfristig überleben, wenn sie beim grundlegendsten Produkt – dem Getränk im Glas – Zweifel schürt?

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Die Gratwanderung zwischen Ehrlichkeit und Wirtschaftlichkeit

Die Diskussion um den Füllstrich ist mehr als eine technische Frage. Sie ist ein Spiegelbild der Spannungen, die in der Gastronomie zwischen wirtschaftlichen Zwängen und ethischer Verantwortung existieren. Die Margen sind oft knapp, der Wettbewerb groß – und der Druck steigt, mit jedem Glas Gewinn zu erzielen. Manche Betriebe setzen daher bewusst auf Tricks: Eiswürfel, Schaum und Garnituren, die das Glas optisch füllen, ohne die Getränkemenge zu erhöhen. Das mag kurzfristig finanziell attraktiv sein, kann aber langfristig das Vertrauen der Gäste zerstören. Die Konsument:innen von heute sind informierter, kritischer und kommunizieren transparent – oft auf Social Media.

Andererseits gibt es Gastronomen, die den Füllstrich als Qualitätsmerkmal verstehen und dafür einstehen. Sie sehen darin einen fairen Umgang mit den Gästen, der nachhaltige Kundenbindung schafft. Gerade in Zeiten, in denen Preis-Leistungs-Verhältnis immer stärker hinterfragt wird, können ehrliche Ausschankpraktiken zum echten Wettbewerbsvorteil werden. Diese Diskussion berührt auch eine größere gesellschaftliche Frage: Wie viel Täuschung akzeptieren wir als Kunden? Wie viel Ehrlichkeit erwarten wir von Betrieben, die täglich um unser Vertrauen kämpfen? Und wie stark sollten Behörden eingreifen, um klare Regeln durchzusetzen?

Zum Nachdenken: Die gesellschaftliche Debatte um Ehrlichkeit in der Gastronomie

Auf der einen Seite stehen Verbraucher:innen, die mehr Transparenz und Fairness fordern. Sie sehen in Eiswürfeln und Schaum oft eine Form der Verbrauchertäuschung und verlangen strenge Kontrollen. Auf der anderen Seite verstehen manche Gastronomen die Herausforderungen, mit denen die Branche kämpft. Sie sehen solche Praktiken als notwendiges Übel in einem schwierigen Markt, in dem jeder Cent zählt. Für sie ist der „Füllstrich-Kampf“ ein Symbol für die zunehmende Regulierungsdichte und den wirtschaftlichen Druck auf kleine und mittlere Betriebe.

Doch diese Thematik darf nicht zur Sackgasse führen. Vielmehr braucht es eine offene, ehrliche Debatte, in der sowohl die Perspektiven der Verbraucher:innen als auch die der Gastronomen gehört werden. Nur so lässt sich eine Lösung finden, die faire Ausschankpraktiken fördert, das Vertrauen stärkt und die Branche zukunftsfähig macht.