Wiener Teller, fremde Geschichten: Ethnische Küche

Anne Marie Bakendire

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Es gibt Gerüche, die sind wie Erinnerungen in der Luft. Sie brauchen kein Bild, kein Wort, nur einen Atemzug. Und plötzlich ist man woanders. In einer Küche mit dampfenden Töpfen, der Stimme der Mutter im Hintergrund, einem Radio, das heimlich läuft. Diese Gerüche erzählen Geschichten, die nicht in den großen Erzählungen der Geschichte auftauchen, sondern in den stillen Momenten des Alltags. Ethnische Küche in Wien ist genau das: eine Sammlung von Erinnerungen, die man essen kann. Aber sie ist noch mehr. Sie ist ein Ort, an dem sich zeigt, wie offen, wie ehrlich und wie gerecht eine Stadt wirklich ist. Wer hier isst, bekommt nicht nur Geschmack, sondern auch ein Stück Geschichte serviert. Und nicht selten eine zarte, aber deutliche Botschaft: Wir sind da. Wir gehören dazu. Und wir hören nicht auf zu kochen.

Vom Rand ins Zentrum – ohne Einladung, aber mit Geschmack

Die ethnische Gastronomie in Wien war nie geplant. Sie war notwendig. Für viele war das Eröffnen eines Lokals kein Businessplan, sondern ein Akt des Überlebens. Ein Versuch, den Traum von einer besseren Zukunft zu verwirklichen. Nicht jeder, der heute ein Restaurant in Wien führt, wollte Gastronom:in werden. Viele wollten einfach bleiben. Sich eine Existenz aufbauen. Arbeiten. Da sein.

Was dabei entstand, ist ein Nebeneinander aus syrischen Suppenbars, persischen Teestuben, anatolischen Grills und philippinischen Bäckereien. Viele dieser Lokale werden oft übersehen, selten gefeiert. Doch sie sind unverzichtbar. Sie sind das Fundament einer Stadt, die sich gerne international gibt, aber manchmal vergisst, dass Internationalität nicht nur durch Events, sondern durch den Alltag entsteht. Diese Lokale sind das stille Rückgrat von Wien, gewoben aus Geschichten von Menschen, die ihre Heimat in den Speisen bewahren.

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Und das ist, was diese Küche so besonders macht. Sie ist nicht das Produkt eines Marketings, sondern eine Antwort auf das Bedürfnis, sich mit der Welt zu verbinden. Sie bewahrt etwas von sich selbst, während sie offen ist für Neues. Sie ist die Wahrheit hinter den bunten Bildern der Stadt. Im Schatten der hippen Neueröffnungen und Food-Trends haben sich diese Lokale mit Geduld, Widerstandskraft und einer Form von Wärme gehalten, die kein Design braucht. Es geht hier nicht um Storytelling, sondern um echten Hunger, echte Gastfreundschaft und das Bedürfnis, in der Ferne ein Stück Heimat zu bewahren.

Kent als Herzstück einer Idee: Gutes Essen kennt keine Herkunft

Inmitten dieses Netzwerks ethnischer Kulinarik steht das Restaurant Kent wie ein ruhiger Leuchtturm. Seit den 1990er-Jahren gibt es dieses Lokal in Ottakring. Damals war es mehr als nur ein Restaurant. Es war ein Ort für viele, die in Wien ein Stück Heimat suchten. In Kent gab es nicht nur gutes Essen, sondern Geborgenheit. Einen Ort, an dem man für einen Moment vergisst, wie weit der Weg zurück in die Heimat ist. Heute ist Kent viel mehr als das. Es ist ein Ort, an dem sich Generationen treffen. Ein Platz, der Grenzen aufhebt. Ein Lokal, in dem Türkisch, Deutsch, Kurdisch, Bosnisch und manchmal nur Blicke gesprochen werden. Mit dem neuen Standort in der Johannesgasse, mitten im ersten Bezirk, hat Kent einen symbolischen Schritt gemacht: raus aus der Ecke, rein ins Zentrum. Nicht um dazuzugehören, sondern um zu zeigen, dass man nie weg war.

Dieser Schritt steckt in sich viel. Auch ein leiser Protest. Gegen eine Gastronomieszene, das ethnisches Essen oft nur dann schätzt, wenn es durch eine weiße, akademisierte Linse interpretiert wird. Kent zeigt, dass Authentizität nicht bedeutet, in der „eigenen Community“ zu bleiben. Echtheit passt überall hin. In ein Hinterzimmer in Ottakring genauso wie in die Johannesgasse. Eine dampfende Linsensuppe ist kein Akt der Integration. Sie ist ein Angebot: zum Teilen, zum Zuhören, zum Verstehen.

Jede Küche ist ein Lebenslauf – und ein leiser Kampf

Wer in diese Lokale kommt, sieht oft nur das fertige Essen. Doch was dahinter steckt, ist ein ganzer Lebenslauf. Diese Küchen erzählen Geschichten von Flucht, von Arbeit und von Herausforderungen. Viele dieser Lokale sind Familienbetriebe. Hier arbeiten Generationen zusammen. Es gibt keine klaren Rollen, keine Pausen. Und doch steckt in kaum einer anderen Küche so viel Herzblut. Gerade Frauen tragen oft die stille Hauptrolle in diesen Küchen. Sie führen Unternehmen. Sie halten eine Familie zusammen – mit Töpfen, mit Rezepten und einem ungebrochenen Sinn für Gemeinschaft. Ihre Namen stehen selten auf Speisekarten. Ihre Geschichten finden sich nicht in Foodblogs. Aber ihre Arbeit steckt in jeder Zutat. Es ist Zeit, das anzuerkennen – nicht mit Applaus, sondern mit Respekt. Und mit der Entscheidung, diesen Lokalen einen Platz zu geben. Nicht nur als „authentische Alternative“, sondern als vollwertige Stimme in der Wiener Gastronomie.

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Was Essen kann, wenn man es lässt

Vielleicht ist die ethnische Küche in Wien mehr als nur ein kulinarisches Phänomen. Vielleicht ist sie ein Prüfstein dafür, wie sehr wir bereit sind, unsere Stadt als gemeinsame zu denken. Nicht als Bühne, auf der einige sich präsentieren und andere servieren. Sondern als Raum, in dem Vielfalt nicht dekorativ, sondern strukturell ist. In dem Essen nicht nach „fremd“ oder „österreichisch“ sortiert wird, sondern nach Sorgfalt, nach Wärme, nach Tiefe.

Wenn wir wirklich eine offene Stadt sein wollen, müssen wir auch dort hinschauen, wo niemand um Aufmerksamkeit bittet. Wir müssen wissen, woher das Fladenbrot kommt, das wir essen, und wie viele Hände es gebraucht hat, bis es auf unserem Teller landet. Wir müssen nicht nur das Gericht loben, sondern die Geschichte dahinter sehen. Denn letztlich ist das, was ethnische Küche zu bieten hat, mehr als nur Geschmack. Es ist ein Geschenk – nicht nur für den Gaumen, sondern auch für unsere gemeinsame Idee des Zusammenlebens.